Angst bzw. eine Angststörung kommt selten allein. In den AngstAkademie Kursen liegt der Schwerpunkt auf Angststörungen, d.h. aber nicht, dass die Patienten nur eine einzige Diagnose haben. Das ist sogar eher die Ausnahme. Viel häufiger kommt es vor, dass Patienten gleich mehrere Diagnosen auf einmal haben und dass eine Angststörung weitere psychische Probleme nach sich zieht, zum Beispiel eine Depression. Auch hier ist die Diagnostik ganz entscheidend, denn es muss vom Therapeuten beurteilt werden, welche Störung primär, welche sekundär oder vielleicht sogar tertiär vorliegt.
Die primäre Störung ist immer vor der sekundären und diese immer vor der tertiären Störung vorhanden. Selten treten alle Diagnosen zum gleichen Zeitpunkt auf einmal auf, sondern es gibt meist immer eine Rangfolge. Sowas kennen nicht nur Psychotherapeuten, sondern auch Ärzte anderer Fachrichtungen kennen das. So sorgt ein kaputtes Knie bspw. für eine Dysbalance, die zu Rückenschmerzen führt und diese wiederum führen zur Schonhaltung am Arbeitsplatz, usw. so dass sich schließlich der Nacken durch falsche Haltung verspannt. In diesem Beispiel löste das primäre Knieproblem schließlich sekundär die Rückenschmerzen aus und tertiär die Nackenschmerzen.
Allgemein gilt die Regel: Immer die primäre Störung als erstes behandeln. Sie ist die Wurzel der Erkrankung. Wenn du Unkraut entfernen willst, bringt es schließlich auch nichts, das Unkraut einfach abzumähen. Du musst auch hier das Unkraut bei der Wurzel packen. Wenn du also zuerst die sekundäre Störung behandeln lässt, dann kann es u.U. passieren, dass die Therapie nicht fruchtet oder du dich vergeblich in der Therapie abmühst, da sie von der primären Störung erzeugt und aufrechterhalten wird. Oder, falls die Therapie doch erfolgreich ist, kann so die sekundäre Störung schnell wieder aufflammen, da die primäre Störung, also die Wurzel, noch vorhanden ist.
Wir wissen mittlerweile, dass Angststörungen oft primäre Störungen sind. Depressionen hingegen entstehen häufig sekundär. D.h. es ist möglich, dass Patienten mit einer Depression eine hintergründige, also primäre, Angststörung haben, die zum Beispiel dazu führt, sich zurückzuziehen. Durch den Rückzug ergibt sich ein sogenannter “Verstärkerverlust”. Das bedeutet, dass der Patient durch den sozialen Rückzug keine positiven Erlebnisse mehr erschafft. Durch die fehlende positive Verstärkung wird eine Negativspirale in Gang gesetzt. So geschieht es oft, dass durch die Angststörung überhaupt erst eine Depression entsteht. Der Therapieansatz wäre in diesem Fall, zuerst die Angststörung aufzulösen und mit der Auflösung der Angst würde die Person wieder mehr unter Menschen gehen und so kann auch die Depression wieder zurückgehen.
Angststörungen können natürlich auch sekundär vorliegen. Das klassische Beispiel dafür wäre, wenn eine Angststörung durch ein Trauma ausgelöst wird. Angenommen, ein Kriegstrauma würde dazu führen, dass jemand flackerndes Discolicht vermeidet, weil er dadurch immer starke diffuse Ängste bekommt und auch so genannte Flashbacks erlebt. Hier würde man von den Symptomen her erstmal ganz klar von einer Posttraumatischen Belastungsstörung bzw. PTBS sprechen, die natürlich auch Ängste auslöst. Man würde hier erstmal keine zusätzliche Angstdiagnose vergeben. Nun könnten sich aber auf die traumabezogenen Ängste noch weitere Ängste draufsetzen, z.B. Versagensängste, und diese würden eine zusätzliche Angstdiagnose rechtfertigen. Es könnte bspw. zu Versagensängsten kommen, weil der Patient sich durch die PTBS so stark beeinträchtigt fühlt, dass ihn das zunehmend auch im Privaten und Beruflichen überfordert. In diesem Fall wäre es trotz dieser sekundären Ängste absolut sinnvoll, sogar dringend erforderlich, zunächst das Trauma primär zu behandeln und sobald das Trauma geheilt ist, können sich auch die Versagensängste leichter wieder auflösen.
Nicht immer ist sofort klar, welche psychische Problematik primär und welche sekundär vorliegt. Ein geschulter Therapeut wird das aber herausfinden und erkennen können. Generell macht man in der Regel bei Angststörungen nichts falsch, diese erstmal primär zu behandeln, selbst wenn sie sekundär vorliegen sollten. Angenommen, der Patient ist in eine Depression geschlittert und hat sekundär auch eine generalisierte Angststörung in Form massiver Zukunftsängste entwickelt. Vielleicht grübelt er ständig darüber nach, nie mehr gesund zu werden. Die Angst, egal ob sie primär oder sekundär durch die Depression entstanden ist, hält auf alle Fälle die Depression mit aufrecht. Wenn man also in diesem Falle die sekundäre Generalisierte Angststörung zuerst behandelt, wird es auch im Nachgang leichter, die Depression zu behandeln.
Ein letzter Punkt, den hier unbedingt noch angesprochen werden muss, ist der Fall, wenn ein Patient parallel zur Angststörung eine Suchterkrankung aufweist. Sehr oft entwickelt sich die Sucht sekundär, hier MUSS aber definitiv die Sucht zuerst behandelt werden. Sucht- bzw. Abhängigkeitserkrankungen haben immer Vorrang. Solltest du also nachweislich eine Angststörung haben, aber gleichzeitig auch starkes Suchtverhalten an den Tag legen, das dich massiv beeinträchtigt und negative Konsequenzen nach sich zieht, solltest du zuerst die Suchtproblematik behandeln lassen. Manchmal kann auch beides gleichzeitig angegangen werden, aber das macht nur Sinn, wenn die Sucht noch relativ schwach ausgebildet ist. Eine Abhängigkeit von Substanzen wie Drogen und Alkohol sollte grundsätzlich immer vorrangig behandelt werden.
Autor: Dr. Ulrich Weber